Mitteilung 22 - 2001

Sonderausgabe

'Gutachten des Sachverständigenrates 2001'





Auszug aus dem Gutachten 2000/2001
des Sachverständigenrates für die
Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen


Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit
Band III
Über-, Unter- und Fehlversorgung

Mitglieder des Rates:

Prof. Dr. med. Friedrich Wilhelm Schwartz, Medizinische Hochschule Hannover
Prof. Dr. rer. pol. Eberhard Wille, Universität Mannheim
Prof. Dr. med. Gisela C. Fischer, Medizinische Hochschule Hannover
Prof. Dr. phil. Adelheid Kuhlmey, Fachhochschule Braunschweig-Wolfenbüttel,
Prof. Dr. med. Dr. sc. Karl W. Lauterbach, Universität zu Köln
Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB), Berlin
Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. Peter C. Scriba, Medizinische Klinik, München


Erläuterungen zum Auszug

Der vom Gesundheitsministerium berufene Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat im August 2001 den dritten Teil seines Gutachtens zur medizinischen Unter-, Über- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen vorgelegt. Dem Rat war unter anderem aufgetragen worden, sich zur Rolle der Prävention und Gesundheitsförderung im deutschen Versorgungssystem zu äußern. In seiner Bilanz stellte der Rat eine "mangelnde Präventionsorientierung des deutschen Systems" insbesondere schwerwiegendste Defizite bei der Bekämpfung des Rauchens fest.
Das Folgende gibt die Abschnitte des Gutachtens wieder, in denen sich der Rat mit den Fragen der Tabakkontrolle befasst. Die Kurzfassung des Gutachtens 2000/2001 Band III ist im Internet unter http://www.svr-gesundheit.de/gutacht/gutlei.htm abrufbar.




Inhaltsübersicht*

Onkologische Erkrankungen
Übersicht zu tabakrauchassoziierten Erkrankungen
Übersicht: Prävention des Tabakrauchens

Mehrdimensionale gemeindebezogene Programme:
Massenmedienkampagnen
Preiserhöhungen
Werbeverbote
Verkaufsbeschränkungen
Zigarettenautomaten
Allgemeine Rauchverbote
Rauchverbote für Jugendliche
Produktregulationen
Warnhinweise
Anti-Schmuggelaktivitäten
Rauchreduzierung und -entwöhnung
Selbsthilfemaßnahmen
Behandlungsmaßnahmen
Ärztliche Beratung
Schutz vor Passivrauchexposition
Einstellungen zu Anti-Tabak-Maßnahmen in der Bevölkerung
Finanzierung von Tabakkontrollstrategien
Qualitätssicherung/Evaluation

Fazit und Empfehlungen des Rates
Impressum
__________________________________________________________
*Der vorliegende Auszug behält die ursprünglichen Bezifferung des Textes bei




12 Onkologische Erkrankungen


21.1. Lungenkarzinom

12.1.1 Krankheitslast

242. Das Lungenkarzinom (ICD-9: 162; ICD-10: C33 - C34) ist in Deutschland mit 28.200 jährlichen Neuerkrankungen der häufigste bösartige Tumor des Mannes (17 % aller bösartigen Neubildungen) und gehört mit 8.900 jährlichen Neuerkrankungen zu den fünf häufigsten Krebserkrankungen der Frau (5 % aller bösartigen Neubildungen). Die Überlebensprognose des Lungenkarzinoms ist schlecht: die relative 5-Jahres-Überlebensrate beträgt bei Männern 9 % und bei Frauen 17 %. Während die Inzidenz bei Männern in den letzten 20 Jahren leicht zurückging, betrugen die jährlichen Zuwachsraten bei Frauen ca. 3 %. Im europäischen Vergleich liegt die Inzidenz des Lungenkarzinoms in Deutschland im mittleren Bereich.
243. Bei Männern sind mindestens 90 %, bei Frauen 30 - 60 % der Lungenkrebserkrankungen dem Rauchen zuzuschreiben. 37,3 % der erwachsenen Männer und 27,9 % der erwachsenen Frauen in Deutschland rauchen. Insgesamt ergeben die in Deutschland durchgeführten Untersuchungen zum Rauchverhalten folgendes Bild:
- Männer rauchen häufiger und größere Mengen als Frauen. Es gibt einen schwach fallenden Trend beim männlichen Geschlecht, nicht jedoch bei den Frauen;

- zwar nimmt mit steigendem Alter die Zahl der Raucher ab, bei jüngeren Altersgruppen zeigt sich jedoch in den letzten Jahren eine Zunahme des Rauchens;

- in den neuen Bundesländern liegt der durchschnittliche tägliche Zigarettenkonsum noch unterhalb des Westniveaus, jedoch mit ansteigender Tendenz;

- in sozial schwachen wird mehr geraucht als in den übrigen Bevölkerungsgruppen.
244. Rauchen erhöht das Risiko für eine Reihe weiterer Erkrankungen (vgl.-Tabelle 18)

Tabelle 18: Übersicht zu tabakrauchassoziierten Erkrankungen
Zusammenhang zum Rauchen hergestellt Krebserkrankungen Andere Erkrankungen
Sicher Lunge, Mund-/Nasen- und Rachenraum, Kehlkopf, Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse, Blase Koronare Herzkrankheit, Cor pulmonale, Aortenaneurysma, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Schlaganfall, Pneumonie
Wahrscheinlich Niere, Magen, Leukämie, Gebärmutterhals
Quelle: Becker, N. u. Wahrendorf, J. (1998)

Die tabakbezogene Mortalität summierte sich 1993 auf über 100.000 vorzeitige Todesfälle mit ca. 1,5 Mio. verlorenen Lebensjahren. 23 % aller vorzeitigen Sterbefälle von Männern und 6 % der vorzeitigen Sterbefälle von Frauen sind auf tabakassoziierte Erkrankungen zurückzuführen. Hinzu kommen ca. 31.000 vorzeitige Berentungen und 17,7 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr. Die direkten Kosten belaufen sich auf etwa 34 Mrd. DM bzw. 1,07 % des Bruttoinlandprodukts. Auf das Lungenkarzinom entfallen ca. 5,3 Mrd. DM. ....(..)....


Prävention

246. Übereinstimmend wurde festgestellt, dass angesichts der weiten Verbreitung des Tabakrauchens eine Unterversorgung mit Primärprävention vorliege. Die Primärprävention des Tabakrauchens wurde als wirksamste Möglichkeit gesehen, die Mortalität des Bronchialkarzinoms zu senken. Es wurden konsequente Aktivitäten im Sinne einer Primärprophylaxe des inhalativen Rauchens gefordert, die ebenso intensiv betrieben werden sollten wie die AIDS-Aufklärungskampagnen der letzten Jahre. Nichtrauchen solle als Faktor der Lebensqualität verdeutlicht werden und Aufklärungskampagnen müssten bereits im Grundschulalter beginnen. Als dringend notwendig wurden flächendeckende Angebote für besondere Zielgruppen, z. B Schwangere, angesehen. ....(..)....


Übersicht 1: Prävention des Tabakrauchens

251. Eine rasche und deutliche Absenkung des Tabak- und v. a. des Zigarettenrauchens ist nicht durch isolierte Aufklärung, sondern durch geplante multimodale Kampagnen auf der Basis breit kommunizierter und verbindlicher politischer Entscheidungen zu erreichen. So werden z. B von der WHO wirtschafts- und gesundheitspolitische Maßnahmen empfohlen, die z. B Steuererhöhungen für Tabakwaren, Maßnahmen gegen Schmuggel, Verbot der direkten und indirekten Werbung, Verkaufsverbot an Kinder und Jugendliche, Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz und in öffentlichen Einrichtungen sowie Regelungen zu Produktinhalt und Verpackung einschließen. Ein derart anspruchsvolles präventionspolitisches Programm steht allerdings in deutlichem Kontrast zur deutschen Wirklichkeit.
Nach Ansicht des Rates reicht der Kenntnisstand zur Wirksamkeit unterschiedlicher Präventionsansätze aus, um für Deutschland eine kohärente Politik gegen das Tabakrauchen zu formulieren und umzusetzen.

252. Anti-Tabak-Kampagnen verfolgen im Wesentlichen drei Ziele:

- nichtrauchende Personen vom Rauchbeginn abzuhalten (primäre Prävention des Tabakrauchens). Im Fokus stehen dabei Jugendliche, da diese besonders gefährdet sind, sich zum

- Rauchen verleiten zu lassen, durch die Gewohnheit zum Raucher und dann abhängig zu werden;

- bereits rauchende Personen vom Rauchen abzuhalten bzw. ihren Konsum einzuschränken (Raucherentwöhnung, primäre, sekundäre und tertiäre Prävention);

- die Allgemeinbevölkerung vor unfreiwilliger Passivrauchexposition zu schützen (primäre Prävention der Passivrauchexposition)(1).

Bei allen Maßnahmen ist das hohe Suchtpotenzial des Tabakrauchens in Rechnung zu stellen.

253. Nur wenige Menschen werden nach Abschluss ihrer Teenager-Zeit zu regelmäßigen Rauchern. Deshalb hat die primäre Prävention im Kindes- und Jugendalter entscheidende Bedeutung. Die effektivste Methode ist die Verhinderung des Einstieges in den Konsum. Darüber hinaus zeigen Studien, dass die langfristigen tabakassoziierten Schäden bei früherem Rauchbeginn besonders ausgeprägt sind.
Edukative Maßnahmen lassen sich wie folgt definieren:

- kognitiv ausgerichtete Maßnahmen können Wissen, jedoch kaum Einstellungen und Verhalten verändern;

- affektiv und auf alternative Verhaltensweisen ausgerichtete Maßnahmen zeigen mäßige, kurzfristige Effekte auf Wissen, Einstellungen und Verhalten;

- Maßnahmen der ‚sozialen Impfung' sind darauf angelegt, Jugendliche dazu zu befähigen, soziale Einflussfaktoren, z. B durch Werbung oder durch Gleichaltrige, zu erkennen und ihnen zu widerstehen. Sie zeigen derzeit offenbar die besten einstellungs- und verhaltensbezogenen Veränderungspotenziale.

Maßnahmen, die sich auf edukative Instrumente beschränken, können zwar den Einstieg in den Konsum um ein bis zwei Jahre hinauszögern, ihn jedoch meist nicht völlig verhindern.

254. Mehrdimensionale gemeindebezogene Programme:
Mehrdimensionale gemeinschafts- bzw. zielgruppenbezogene Programme(2), wie sie zum Beispiel in zahlreichen Bundesstaaten der USA oder in Neuseeland durchgeführt werden, scheinen deutliche Erfolge zu erzielen. Programme stützen sich meist auf drei Säulen:

- zahlreiche kommunale Projekte (auf der gesamten Bandbreite von verhaltensbezogener Prävention und Behandlung bis hin zu gesellschaftspolitisch orientierten Anstrengungen zur Änderung der tabak-bezogenen Anreize und Umweltfaktoren),

- landesweite begleitende wegbereitende und unterstützende Massenmedienkampagnen, die insgesamt getragen werden von einem

- landesweiten Netz an unterstützenden Dienstleistungen, deren primäre Aufgabe es ist, Gesundheits- oder andere Berufsgruppen und Laien für die Tabakprävention zu qualifizieren.
Präventionskampagnen, für die eine (beschränkte) wissenschaftliche Evidenz für die Effektivität besteht, sind in eine umfassende Präventionsstruktur einzubinden, breit, flexibel handhabbar und partizipativ zu gestalten und von politischen Rahmenvereinbarungen zu stützen.

Als wirksame und wichtige Elemente einer umfassenden Präventionspolitik haben sich in einem solchen Rahmen folgende Maßnahmen erwiesen:

255. Massenmedienkampagnen: Die Prävention durch massenmediale Interventionen allein hat einen geringen Effekt auf das Rauchverhalten von Jugendlichen. Allerdings können sie dennoch hilfreich eingesetzt werden, da sie eine große Anzahl Jugendlicher und Erwachsener erreichen und Themenaufmerksamkeit sichern.

256. Preiserhöhungen: Preissteigerungen gelten als das wirksamste Einzelinstrument zur Reduktion von Tabakkonsum. Preis- und Steuererhöhungen sind in der Lage, den Konsum erheblich zu reduzieren(3). Ob allerdings der Einstieg in den Konsum durch Preissteigerungen verhindert werden kann, wird kontrovers beurteilt. Eine Minderheit unter den Rauchern kompensiert erfahrungsgemäß Preiserhöhungen z. B durch den Konsum von Zigaretten mit höherem Nikotingehalt. Der erwartbare Gesundheitseffekt durch Preiserhöhungen wird aber als bedeutsamer eingeschätzt als diese unerwünschten Wirkungen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Problematik der sozialen Ungerechtigkeit: Ärmere Gruppen der Bevölkerung werden durch steigende Preise doppelt belastet, da sie zum einen einen vergleichsweise größeren Anteil ihres Einkommens für Zigaretten ausgeben müssen und zum anderen häufiger zu den Rauchern zählen. Allerdings zeigen sich die ärmeren Bevölkerungsgruppen - nicht überraschend - als besonders preisresponsiv, so dass der Gesundheitsgewinn durch Preiserhöhungen gerade in diesen Bevölkerungsgruppen besonders hoch ist.

257. Werbeverbote: Die Bedeutung von Werbung ist nicht alleine darauf beschränkt, dass sie Konsum bewirken oder befördern kann. Sie dient außerdem dazu, positive Bilder mit Zigarettenkonsum zu verknüpfen und den Zigarettenkonsum als normales und weitverbreitetes Alltagsverhalten erscheinen zu lassen. Studien belegen sowohl den Zusammenhang zwischen Werbeausgaben und Konsummengen als auch den Zusammenhang zwischen Werbeverboten und Tabakkonsum. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass ein Werbeverbot für Tabak den Konsum verringert und umgekehrt Tabakwerbung bei Jugendlichen gruppenspezifisch den Konsum erhöht.
Begrenzte Werbeverbote, beispielsweise nur für das Fernsehen, sind wirkungslos, da sie zu Kompensationsmaßnahmen, etwa in Form von vermehrter Werbung in Zeitschriften, oder zum Ausweichen auf andere Werbestrategien, z. B Sponsoring, führen. Auch die Begrenzung von Werbung auf ausgewählte Zielgruppen, vor allem auf Erwachsene, ist wirkungslos, da Jugendliche Werbeplakate auch dann sehen, wenn sie mehr als 100 Meter von Schulen entfernt stehen; in der Realität werden diese Regeln zudem häufig nicht eingehalten. Allerdings darf das Verbot von Werbung nur eine von vielen Maßnahmen sein, ansonsten ist eine spürbare Veränderung nicht zu erreichen. Innovative Anti-Werbung hat eine große Reichweite und erweist sich als wirksam.

258. Verkaufsbeschränkungen: Anders als beim Verkauf von Alkohol an Minderjährige, der durch das Jugendschutzgesetz reglementiert ist, verbietet das Gesetz nur das Rauchen in der Öffentlichkeit, jedoch nicht die Abgabe an oder den Erwerb durch Minderjährige bzw. unter 16-Jährige. Ein bundesweites Verkaufsverbot für Minderjährige, wie dies in anderen Ländern üblich ist, transportiert u.U. ambivalente Botschaften: Rauchen ist schädlich und darum nicht frei verfügbar oder Zigaretten sind ‚verbotene Früchte'.

259. Zigarettenautomaten: Zwei Drittel aller rauchenden Jugendlichen versorgen sich in Deutschland aus Zigarettenautomaten. Obwohl die quantitative Bedeutung dieses Vertriebsweges in den letzten Jahren abgenommen hat, sind in Deutschland immer noch ca. 800.000 öffentlich zugängliche Zigarettenautomaten aufgestellt. Eine generelle Abschaffung von Zigarettenautomaten dürfte einen erheblichen Effekt auf die Menge gerauchter Zigaretten haben. In den USA hat es sich auch als sinnvoll erwiesen, den Verkauf von Einzelzigaretten oder Kleinabgabemengen, etwa mit 10 Zigaretten pro Schachteln, die überwiegend von Jugendlichen genutzt
werden, zu unterbinden. Die von Teilen der Zigarettenindustrie vorgeschlagene Einführung von Chipgeld für Zigarettenautomaten lässt einen ähnlichen Effekt wie bei Verkaufsbeschränkungen erwarten, nämlich den Anreiz für Kinder und Jugendliche, ‚zigarettenfähiges Chipgeld' als Symbol der Erwachsenenwelt zu erlangen.

260. Allgemeine Rauchverbote: Örtliche Rauchverbote und rauchfreie Zonen reduzieren sowohl die Wahrscheinlichkeit, überhaupt zu rauchen, als auch die durchschnittliche Menge gerauchter Zigaretten. Rauchrestriktionen reduzieren die Gelegenheiten, überhaupt zu rauchen und verändern das kulturelle Klima zum Rauchen. Darüber hinaus sind Rauchrestriktionen in der Öffentlichkeit auch ein Beitrag zum Schutz von Nichtrauchern vor Passivrauchen und haben deshalb hohe Bedeutung.

261. Rauchverbote für Jugendliche: In Deutschland ist nach § 9 Jugendschutzgesetz Jugendlichen unter 16 Jahren das Rauchen in der Öffentlichkeit verboten. Diese seit langem bestehende Vorschrift wird in Deutschland seit Jahrzehnten praktisch nicht mehr durchgesetzt. Allerdings werden Rauchverbote gegenüber Jugendlichen von Public Health-Experten kritisch bewertet, denn solche Regelungen sind nur dann sinnvoll, wenn sie auch kontrolliert durchgesetzt werden.
Rauchverbote für Jugendliche in spezifischen Settings, z. B in der Schule, weisen derzeit noch widersprüchliche Ergebnisse auf. Allerdings gelten strikt durchgesetzte schulische Rauchverbote und besser noch verbindliche Rauchverbote zu Hause als moderat wirksame Strategien zur Konsumreduktion bei Jugendlichen.

262. Produktregulationen: Im Sinne der Schadensbegrenzung können auch gesetzlich verankerte Produktregulierungen, die dazu beitragen, Tabakprodukte so wenig gesundheitsschädlich wie möglich zu produzieren, einen Beitrag zur Problemlösung bieten. Tabakrauch enthält über 4.000 chemische Verbindungen, mindestens 43 gelten als erwiesenermaßen krebsauslösend, und der Großteil der übrigen Substanzen als allgemein gesundheitsschädlich. Zahlreiche dieser toxischen Inhaltsstoffe sind nicht unvermeidbarer Bestandteil bei der Zigarettenproduktion, sondern werden zusätzlich zugeführt, beispielsweise Ammoniak, um die suchterzeugende Wirkung des Nikotins zu erhöhen und auch bei niedrigdosierten Zigaretten sicherzustellen.

263. Warnhinweise: Es gibt derzeit wenig Forschung zur Wirksamkeit von Warnhinweisen (zumindest für Jugendliche). Bisherige Studien sprechen allerdings für eine geringe Erfolgsrate (4).

264. Anti-Schmuggelaktivitäten: Aktivitäten gegen den Zigaretten-Schmuggel gehören zu den Prioritäten der weltweiten Anti-Tabak-Politik. Für Deutschland von besonderer Relevanz ist die Tatsache, dass geschmuggelte Zigaretten, aufgrund ihres in der Regel günstigeren Preises, gerade den hierzulande besonders vulnerablen Gruppen (ärmere Bevölkerungsschichten und Jugendliche) erlauben, mit dem Rauchen zu beginnen bzw. den Konsum nicht zu beschränken oder aufzugeben.

265. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass durch umfassende Anti-Tabak-Kampagnen der Beginn des Rauchens bei Jugendlichen in 20 bis 40 % der Fälle zeitlich verschoben oder sogar vermieden werden kann. Bei solchen umfassenden Tabakkontrollprogrammen erweisen sich Umfang der finanziellen Unterstützung der Kampagnen aus öffentlichen Quellen und Neutralisierung des Einflusses der Tabakindustrie als entscheidende Faktoren.


Rauchreduzierung und -entwöhnung

266. Zu den Strategien einer Reduktion des Tabakrauchens gehören auch Selbsthilfe- und Behandlungsmaßnahmen. Programme zur Raucherentwöhnung sind in fast allen Fällen hinsichtlich ihrer Effektivität nicht evaluiert worden. Derzeit scheinen die wissenschaftlichen und kommerziellen Aktivitäten auf dem Gebiet der Rauchreduzierung mithilfe pharmazeutischer Produkte zuzunehmen. Ob damit lediglich dem säkularen Trend der Individualisierung der Prävention marktgängig entsprochen wird, oder ob auf diesem Wege tatsächlich epidemiologisch relevante Ergebnisse erzielt werden können, ist derzeit noch unklar.

267. Selbsthilfemaßnahmen: Bei den Selbsthilfemaßnahmen, die auf der Eigeninitiative des Rauchers beruhen, wird in erster Linie zwischen Medienangeboten, nicht verschreibungspflichtigen Präparaten und technischen Hilfsmitteln unterschieden. Der Vorteil solcher Maßnahmen besteht darin, dass sie niederschwellig sind. Im Vergleich zu den deutlich aufwändigeren Behandlungsmaßnahmen ist ihre Effektivität jedoch gering, und sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, mit dem Rauchen aufzuhören, nur geringfügig. Bisher haben in Deutschland nur etwa 2 % der Personen, die mit dem Rauchen aufgehört haben, solche, zudem meist auch teure Materialien verwendet. Auch fehlen bei den deutschsprachigen Selbsthilfemaßnahmen Untersuchungen zur Evidenz fast vollständig

268. Behandlungsmaßnahmen: Das Konzept der individuellen oder in Gruppen stattfindenden Behandlungsmaßnahmen beruht auf der Kombination von multimodalen, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Elementen und Nikotinsubstitution. Diese eher hochschwelligen Angebote setzen eine gewisse Motivation voraus und sind effektiver als die beschriebenen Selbsthilfemaßnahmen. Einem aktuellen Report des US Surgeon General zufolge bleiben 20 bis 25 % der Anwender solcher Ansätze auch ein Jahr nach Behandlung abstinent. Derzeit ist unklar, ob die Behandlung in Gruppen der individuellen Betreuung in ihrer Effektivität überlegen ist. Die Behandlung mit Bupropion (alleine oder in Kombination mit Nikotinsubstitution) erscheint vielversprechend; weitere Studien sind jedoch erforderlich. Clonidin und Nortriptylin scheinen einen gewissen positiven Effekt zu haben, der sich jedoch auf nur wenige Studien stützt. Insbesondere bei Buprion und Clonidin sind jedoch gravierende Nebenwirkungen zu berücksichtigen. Andere Behandlungsformen und Medikamente, denen bisher nur eine geringe Effektivität nachgewiesen werden konnte, sind z. B Mecamylamin, Akupunktur, Hypnosetherapie, Anxiolytika und Lobelin. Die letzteren beiden werden derzeit als ineffektiv eingestuft. Aversives Rauchen, insbesondere das schnelle Rauchen, scheint für bestimmte Raucher einen positiven Effekt zu haben.

269 Ärztliche Beratung: Nach internationalen Studien kommt dem ärztlichen Ratschlag an Patienten "mit dem Rauchen aufzuhören" bei entsprechender Vorbildung und medialer Unterstützung der Ärzte nur eine mäßige Einzeleffektivität zu. Jedoch kann durch die hohe Zahl erreichter Personen und die wiederholte Exposition möglicherweise ein beachtlicher Gesamtwirkungsgrad erreicht werden.


Schutz vor Passivrauchexposition

270. Hierzu existieren in Deutschland zahlreiche gesetzliche Regelungen und staatliche Verordnungen. Diese dienen entweder mittelbar (z. B. Brandschutzvorschriften, gaststättenrechtliche Vorschriften, Jugendschutz) oder unmittelbar (z. B. Arbeitsrecht, Verkehrsrecht) dem Nichtraucherschutz. Versuche zum Erlass eines Nichtraucherschutzgesetzes waren in Deutschland bislang nicht erfolgreich.
Eine bedeutsame Quelle von durch Passivrauchen induzierten Gesundheitsstörungen ist die Exposition in-utero. In internationalen Studien hat sich die Beratung und Behandlung schwangerer Raucherinnen als effektiv erwiesen und sollte deshalb über die ärztlichen Praxen verstärkt zum Einsatz kommen.


Einstellungen zu Anti-Tabak-Maßnahmen in der Bevölkerung

271. Es ist davon auszugehen, dass die Implementation nicht nur von kostenneutralen, sondern auch von ressourcenverbrauchenden Maßnahmen zur Tabakkontrolle in der Öffentlichkeit akzeptiert wird. Zahlreiche Studien belegen die positive Einstellung der Bevölkerung und gesundheitsrelevanter Organisationen gegenüber Tabakkontrollstrategien.


Finanzierung von Tabakkontrollstrategien

272. Um Tabakkonsum bei Nichtrauchern zu vermeiden, bei Rauchern zu senken und die Tabakrauch-Exposition in öffentlichen Räumen zu reduzieren, ist eine hinreichende Bereitstellung von finanziellen und personellen Ressourcen nötig.

Sollte in der deutschen Gesundheitspolitik die Entscheidung für eine konsistente und integrierte Anti-Tabak-Kampagne getroffen werden, so reichen die bisherigen Finanzierungsquellen nicht aus. Die Kosten einer umfassenden Anti-Tabak-Kampagne werden nach einer Berechnung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für Deutschland - nach initial höherem Aufwand - auf jährlich 30 bis 40 Mio. DM geschätzt. Diese Aufwendungen dürfen nach Ansicht des Rates jedoch nicht einfach als Mehrausgaben interpretiert und damit dem Gebot kurzfristig gedachter Kostensenkung im Gesundheitswesen untergeordnet werden. Vielmehr sollte dieser Aufwand primär unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass er schon mittelfristig dazu beitragen kann, Kosten im Gesundheitswesen und in der Krankenversorgung zu senken.

Zu beachten ist auch, dass der Bund derzeit beträchtliche Einnahmen durch den Tabakkonsum hat: Die Tabaksteuer ist nach der Mineralölsteuer die ertragreichste Verbrauchssteuer in Deutschland und erbringt gegenwärtig rund 22 Mrd. DM pro Jahr. Befürchtungen drastischer Einbußen bei den Steuereinnahmen im Zuge einer umfassenden Anti-Tabak-Kampagne sind jedoch unbegründet. Erhöhungen der Tabaksteuer, die integraler Bestandteil jeder konsistenten Präventionskampagne sind, führen zunächst zu Mehreinnahmen. Sinkende Einnahmen sind demzufolge erst mittel- und langfristig zu erwarten, so dass genügend Zeit verbleibt, um diese Einnahmeausfälle durch kompensatorische Maßnahmen aufzufangen.


Qualitätssicherung/Evaluation


273. Erforderlich ist eine sorgfältige, wissenschaftlich gestützte Planung von Anti-Tabak-Kampagnen, ihre Begleitung durch erprobte Instrumente der Qualitätssicherung sowie die Bereitschaft, entsprechend den feststellbaren Ergebnissen der einzelnen Schritte und Instrumente der Kampagne Modifikationen und Korrekturen vorzunehmen




Fazit und Empfehlungen des Rates

274. Der Rat spricht sich nachdrücklich für einen Neuanfang in der Anti-Tabak-Politik in Deutschland aus. Dafür sprechen epidemiologische Daten, positive Erfahrungen mit öffentlich induzierter Verhaltensmodifikation, Umsetzung von wirksamen und nachhaltigen Präventionskampagnen in anderen Ländern, aber auch Erfolge von Kampagnen v. a. zur Aids-Prävention. Eine auf diese Erfolge gestützte ‚Nationale Anti-Tabak-Kampagne' kann jetzt initiiert und implementiert werden (A) .(5)

275. Trotz dieser günstigen Ausgangsbedingungen für eine bundesweite Anti-Tabak-Kampagne sieht der Rat auch gravierende Hemmfaktoren, welche die Umsetzung einer umfassenden Tabakkontrolle zur Zeit behindern. Diese bedürfen spezieller Aufmerksamkeit und sollten infolgedessen schon bei der Konzipierung einer Kampagne im Sinne der Gegensteuerung und Neutralisierung berücksichtigt werden.
Insbesondere ist hierbei das Interesse der Tabakindustrie an großem und wachsendem Umsatz zu nennen, das in der Vergangenheit oft genug wirksame Prävention zu blockieren vermochte. Vereinbarungen mit der Tabak- und insbesondere mit der Zigarettenindustrie zur freiwilligen Selbstbeschränkung, z. B bei Werbung und Promotion, haben sich bislang durchweg als ineffektiv erwiesen.

276. Der Rat empfiehlt als Teil einer wirksamen Anti-Tabak-Strategie drei Ziele zu verfolgen:
- Nicht-Rauchen und rauchfreie Räume zum Normalfall werden zu lassen und damit das Tabakrauchen, nicht aber rauchende Menschen, gesellschaftlich zu marginalisieren;

- den Einstieg in den Konsum verhindern. Dies betrifft insbesondere Jugendliche, da der Einstieg in der Regel im Jugendalter stattfindet;

- den Ausstieg bzw. die Konsumreduktion erleichtern. Dazu bedarf es flächendeckend leicht erreichbarer und zielgruppenspezifischer Angebote für alle Raucher.
277. Der Rat sieht drei Ebenen für umfassende Präventionskampagnen:

1. Bevölkerungsweite Strategien, Streubotschaften und Anreize

Zu den bevölkerungsweiten Strategien gehören neben umfassenden und anhaltenden Massenmedienkampagnen, einschließlich der Antiwerbung, auch Preiserhöhungen, ein vollständiges Werbe- und Sponsoringverbot für die Zigarettenindustrie, die Optimierung der Maßnahmen zur Produktregulierung, die wirksame Bekämpfung des Zigarettenschmuggels sowie angemessene Beschränkungen der Verfügbarkeit und des öffentlichen Konsums.

2. Zielgruppen- und settingspezifische Kampagnen

Um Prävention wirksam implementieren zu können, sind zielgruppenspezifische Maßnahmen notwendig. Zentrale Zielgruppen, die eine vermehrte Aufmerksamkeit für Tabakpräventionsmaßnahmen benötigen, sind insbesondere Frauen, Jugendliche und sozial Benachteiligte. Diese Gruppen sind spezifisch in ihren jeweiligen sozialen Zusammenhängen der Arbeit und der Freizeit (‚Settings') zu erreichen. Als geeignete Settings sind insbesondere Betriebe, Bildungseinrichtungen, Vereine, Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung, aber auch Gewerkschaften oder Kirchen denkbar. Besonders geeignet zur Vermittlung präventiver Botschaften sind statusgleiche Personen mit vergleichbaren soziokulturellen Lebensbedingungen (‚peers'). Staatliche Anti-Tabak-Politik hat auf dieser Ebene v. a. die Aufgabe, dezentrale und gruppenspezifische Aktivitäten anzuregen und zu ermöglichen.

3. Persönliche Kommunikation, Beratung und Behandlung

Auf personaler Ebene ist es besonders wichtig, die Botschaften der Primärprävention zu vertiefen und zu wiederholen sowie für aufhörwillige Raucher und Ex-Raucher niedrigschwellige Unterstützung anzubieten. Auch für derzeit unentschlossene oder nicht aufhörwillige Raucher sollten Angebote bereitgestellt werden, deren Ziel es ist, sie zu gesundheitsförderlichen Einstellungen anzuregen. Insbesondere Maßnahmen der ‚sozialen Impfung' zur Identifikation risikoträchtiger Situationen sowie zur Stärkung der Widerstandskräfte gegenüber riskantem Verhalten lassen sich im Rahmen personalkommunikativer Maßnahmen wirksam einsetzen.

278. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine Kampagne umso erfolgreicher ist, je mehr sie den Kriterien der Konsistenz und der Integration genügt.
Konsistenz der Kampagne bedeutet dabei,
dass sie mit ihren Instrumenten alle relevanten Aspekte des Problems trifft. Danach muss die Botschaft "rauchfrei ist besser" oder "rauchfrei - wir schaffen das" nicht nur in der gesamten Bevölkerung bekannt sein; vielmehr sind auch bevölkerungsweit, zielgruppenspezifisch und personenbezogen möglichst alle politisch zu beeinflussenden Anreize so zu gestalten, dass die Befolgung dieser Maxime erleichtert, ihre Nichtbefolgung erschwert wird. Dies betrifft

-- die Information und Aufklärung (Massenmedien einschließlich Anti-Werbung, Werbe- und Sponsoring-Verbote sowie Warnhinweise),

- die materiellen Anreize (Preiserhöhung, Anti-Schmuggelaktivitäten),

-- die Zugänglichkeit (Verkaufsbeschränkungen, Zigarettenautomaten),

- die Rauchrestriktionen (örtliche Rauchverbote in öffentlichen Gebäuden und für Jugendliche in der Öffentlichkeit unter 16 Jahren),

- die breite Information über und die Zugänglichkeit zu preisgünstig vorzuhaltenden bzw. ggf. zu subventionierenden Möglichkeiten der wissenschaftlich geprüften Raucherentwöhnung sowie

- die Normierung und Implementierung des Nichtraucherschutzes innerhalb von Gebäuden;

- dass sie von allen relevanten Akteuren getragen sein muss. Danach reicht es z. B nicht aus, wenn allein die Bundesregierung eine Anti-Tabak-Politik verkündet, sondern es ist notwendig, Vertreter aller staatlichen Ebenen, des Bildungswesens, der Vereinigungen und Gruppen im Freizeit- und Sportbereich, der Wirtschaft, der Sozialversicherungen etc. zur materiellen und moralischen sowie zur aktiven Beteiligung an einer solchen Politik zu gewinnen.

- dass sie in sich möglichst widerspruchsfrei ist. Dieses Kriterium ist z.B. solange verletzt, wie Rauchverbote für öffentliche Gebäude zwar verkündet, aber nicht implementiert werden oder öffentlich für Zigarettenkonsum geworben werden darf.
Eine Anti-Tabak-Politik kann als integriert bezeichnet werden,
- wenn die Aufgaben so verteilt sind, dass alle Akteure, die von ihnen zu leistenden Beiträge erbringen können. Zu denken ist an Repräsentanten des Bildungswesens einschließlich der Volkshochschulen, der Sport- und sonstigen Freizeitvereine, der Krankenversorgung und Rehabilitation, der Wohlfahrts- und Jugendverbände, der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, der Sozialversicherungen und der Kirchen. Eine solche ‚Nationale Anti-Tabak-Kampagne' hätte die Aufgabe, dem Thema die notwendige öffentliche Resonanz zu verleihen und auch als Lobby für die notwendigen legislativen Schritte tätig zu werden. Mit der Durchführung der operativen Maßnahmen sowie mit der Koordination der zahlreichen zielgruppen-, bereichs- und settingspezifischen Kampagnen sollte die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betraut werden, die u. a. bei der Aids-Prävention die dazu notwendigen Erfahrungen gesammelt und sich als kompetent erwiesen hat. Ihren optimalen Beitrag können Ärzte dann leisten, wenn sich ihr Ratschlag für die Beratenen erkennbar auf eine allgemein bekannte Aufklärungskampagne bezieht und zugleich ihre individuelle Situation berücksichtigt;

- wenn sie sich in den Gesamtzusammenhang der staatlichen und gesellschaftlichen Bemühungen zur Verbesserung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung einfügt. Das heißt z. B., dass Anti-Tabakpolitik auch Gegenstand der breit und öffentlich zu führenden Debatte über Gesundheitsziele zu sein hat. Das heißt aber auch, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und der Wahrscheinlichkeit des Rauchens nicht nur öffentlich thematisiert, sondern auch in der Instrumentierung zielgruppen- und setting-spezifischer Kampagnen praktisch berücksichtigt wird.
279. Die Ergebnisse bisheriger Ansätze von Anti-Tabakpolitik in Deutschland können gesundheitspolitisch nicht befriedigen, und fallen hinter den in anderen Ländern erzielten Resultaten zurück. Die Anti-Tabak-Politik in Deutschland verlangt einen Neuansatz auf Basis des mittlerweile vorliegenden Wissens. Angesichts des breiten und differenzierten Erfahrungsschatzes im Hinblick auf die Konzipierung, Durchführung und Qualitätssicherung von Anti-Tabak-Kampagnen dürfte es möglich sein, den Zeitraum der Vorbereitung einer solchen langfristigen und umfassenden Kampagne auf zwölf Monate zu begrenzen. Als Zeitrahmen für einen ersten Förderungszyklus der Gesamtkampagne sollten nicht weniger als 4 Jahre zusätzlich zur Vorbereitungsphase veranschlagt werden. Ein einfaches "Weiter so wie bisher" oder "Von allem ein bisschen mehr" ist nach Einschätzung des Rates nicht akzeptabel.

Wird diesen Maximen gefolgt, so ergibt sich als Modell ein Interventionstyp, bei dem
- mit vorwiegend nicht-medizinischen und

- mit soweit wie möglich nicht-repressiven Mitteln

- durch eine auf Dauer angelegte Aufklärung über Risiken und Vermeidungsmöglichkeiten,

- die die Lebensweisen, Milieus und Settings der Zielgruppen berücksichtigt und

- prioritär die Möglichkeiten der persönlichen Kommunikation und Beratung nutzt,

- gruppenbezogene und selbstorganisierte Anreizsysteme sowie soziale Normen etabliert werden,

- die ein risikomeidendes Verhalten, d. h. Nicht-Rauchen, zum normalen Verhalten macht und Rauchen tendenziell marginalisiert.
Im Lichte internationaler Erfahrungen sowohl mit Anti-Tabak-Kampagnen wie auch mit anderen Ansätzen der politisch gewollten Verhaltensmodifikation empfiehlt der Rat ein policy-mix, in dem Angebote mit geringem staatlichen Eingriffscharakter und solche mit der Vermittlung eines positiven Lebensgefühls vorrangig vor solchen mit stärkerem Eingriffscharakter erfolgen sollten.

281. Der Rat empfiehlt, die Umsetzung einer ‚Nationalen Anti-Tabak-Kampagne' durch eine sozialwissenschaftliche und epidemiologische Begleitforschung zu evaluieren, die auch Kosten-Nutzen-Analysen einbezieht. Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung wird es sein, die Prozesse des Umgangs mit den Komponenten des policy-mix zu beschreiben, während die epidemiologische Begleitforschung Zielparameter wie die Prävalenz des Rauchens, die durchschnittlich gerauchte Menge, aber auch die Morbidität und Mortalität ausgewählter rauchassoziierter Krankheiten in den Fokus nehmen sollte. Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Begleitung wird es darüber hinaus sein, Rauchen nicht als isoliertes soziales Phänomen zu begreifen, sondern Alkohol, andere Drogen, Erholungsverhalten und individuelle Belastungen mit zu berücksichtigen. Bei der Gestaltung der individuellen Angebote und Programme ist es wichtig, eine langfristige und umfassende Beratung und Betreuung anzubieten, die auch die Konsequenzen eines geänderten Rauchverhaltens mit berücksichtigt und anspricht. Zum einen muss vermieden werden, dass entwöhnte Raucher verstärkt auf andere Drogen und ungesunde Lebensweisen ausweichen, zum anderen muss der Gefahr Rechnung getragen werden, dass Ex-Raucher aufgrund von Enttäuschungen über die Konsequenzen ihres Entschlusses, z. B in Form von Gewichtszunahme oder Entzugserscheinungen, rückfällig werden.
280. Der erste Schritt zur Ingangsetzung eines solchen anspruchsvollen gesundheitspolitischen Projektes ist ein klares Bekenntnis der Bundesregierung sowie der Landesregierungen mit selbstverpflichtendem Charakter. Auf dieser Basis dürfte es möglich sein, die relevanten Akteure für eine solche Politik relativ kurzfristig für eine ‚Nationale Anti-Tabak-Kampagne' zu gewinnen.




(1) Aus noch unveröffentlichten Daten des Bundesgesundheitssurveys 1998 zu Passivrauchexposition geht hervor, dass 55 % der Nichtraucher unfreiwillig Tabakrauch einatmen müssen. 21 % der Nichtraucher gaben eine Exposition am Arbeitsplatz, 13 % eine häusliche Belastung und 43 % eine Exposition andernorts an. 64 % der mitrauchenden Nichtraucher fühlen sich durch das Passivrauchen gestört. zurück zum text

(2) Unter Einbeziehung verschiedener Berufs- und Sozialgruppen sowie Institutionen (z. B. Eltern, Schule, Beteiligung von Unternehmen, Vereinen, Flankierung durch Tabaksteuer, Medienkampagnen, Gemeindeaktionen, Schaffung rauchfreier Zonen). zurück zum text

(3) Die Preiselastizität liegt bei etwa -0,4 bis -0,7, bei Jugendlichen bei -1,2. zurück zum text

(4) Warnhinweise sind dennoch, ebenso wie ‚Beipackzettel' über Inhaltsstoffe und unerwünschte Wirkungen, zumindest aus Verbraucherschutz-Gründen zweckmäßig und notwendig. Außerdem müsste die irreführende Beschriftung von Zigarettenschachteln und Werbeplakaten mit Begriffen wie ‚light' oder ‚ultra-light' unterbunden werden. Insgesamt werden nachfrageorientierte (Verhaltensprävention, Massenmedienkampagnen, Preiserhöhungen, Werbeverbote) jedoch für wirksamer gehalten als angebotsorientierte Maßnahmen. zurück zum text

(5) Zur Definition der Bewertungskategorien vgl. Abschnitt 4.3. zurück zum text









Impressum
Die MITTEILUNGEN ÄRZTLICHER ARBEITSKREIS RAUCHEN UND GESUNDHEIT (ISSN 1618-2766) sind das Mitteilungsorgan des Ärztlichen Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit e.V. (ÄARG) und seines Fördervereins, des Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit (ARG), beide Eching/München. Die Mitteilungen sind abrufbar unter: http://www.aerztlicher-arbeitskreis.de/.

Herausgeber: ÄARG und ARG
Redaktion: Dr. L. Schwarz, Prof. F. J. Wiebel (verantwortlich)
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Erscheinungsdatum: September 2001
Die Mitteilungen erscheinen vierteljährlich und sind auf Anfrage kostenlos erhältlich. Postvertriebsstück Nr B 20757 F